Das ist doch verrückt!

Das Schweizer Trinkwasser ist mit Chlorothalonil belastet. Doch der Bundesrat will nichts von einem sofortigen Verbot des Pestizids wissen. Nun regt sich in den Gemeinden Widerstand.

Der Bauernhof von Thomas Wyssa sieht aus wie eine Fabrik. Eine große, dunkelgraue Halle, davor steht ein Lastwagen mit der Aufschrift: "Für Ihre Gesundheit. Pour votre santé". In der Halle waschen, rüsten, portionieren ein paar Frauen und Männer Hunderte von Lauchstängel, die die Erntehelfer am Vormittag auf den Feldern von Galmiz im Freiburger Seeland geerntet haben. Die wurzligen Strünke und die struppigen Enden der Stängel lassen sie auf ein Förderband fallen.

 

Ein paar Schritte daneben steht ein Container, daran hängen Warnhinweise und ein Rauchverbotsschild. Bauer Wyssa klaubt einen Schlüssel hervor, schließt die Tür auf und zeigt die Töpfe, Säcke und Flaschen, die sich auf Regalen türmen: Cargon, Cuprofix, Chlorothalonil.

 

Für Thomas Wyssa heißen diese Präparate Pflanzenschutzmittel, und sie sind für ihn unverzichtbar. Ohne sie könne er seine 24 Gemüsesorten, die Zwiebeln und den Pak Choi, die Auberginen und die Salate nicht so produzieren, wie das von ihm verlangt werde, sagt er. Makellos und pünktlich, zuverlässig und günstig. "Eine Schnecke oder eine Laus im Salat, und ich muss die ganze Lieferung zurücknehmen!", sagt Wyssa. "Ich könnte den hohen Qualitätsansprüchen nicht gerecht werden ohne die Pflanzenschutzmittel."

 

Für die Grünen, die Biobauern und viele Konsumentinnen heißen die Präparate, die Bauer Wyssa in seinem Container lagert, Pestizide. Sie sind eine riesige Bedrohung für die Umwelt. Sie sind schuld am Insektensterben, eine Gefahr für das Trinkwasser und gehören verboten. Eines von ihnen sofort: Chlorothalonil.

 

Seit diesem Sommer ist bekannt, dass in zehn Prozent der Schweizer Trinkwasserversorgungen zu viele Metaboliten, also Abbaustoffe, dieses Pestizids vorkommen. Der Grenzwert war gesenkt worden, nachdem eine EU-Studie Chlorothalonil als krebserregend eingestuft hatte. Auch kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Abbaustoffe das Erbgut verändern.

In der Schweiz wird Chlorothalonil seit den Siebzigerjahren vor allem im Gemüse- und Weizenanbau oft und gerne gegen Pilzerkrankungen verwendet. 2018 wurden 36,9 Tonnen verspritzt. Im Vergleich zu anderen Präparaten sei das Mittel relativ günstig, sagt Bauer Wyssa: "Wir haben damit die Kosten im Griff."

 

In der EU ist Chlorothalonil seit Ende April verboten. Mitte Juni versprach der Schweizer Landwirtschaftsminister Guy Parmelin in der TV-Sendung 10 vor 10, Chlorothalonil auch hierzulande zu verbieten. Und zwar bis Oktober. Doch sein Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) hat dem Pestizid die Zulassung bis heute nicht entzogen.

 

 

Thomas Wyssa arbeitet seit Jahren mit Chlorothalonil, zum Beispiel in den Zwiebelkulturen. Während der 120 bis 150 Tage zwischen Aussaat und Ernte müsse er, wenn es feucht und warm sei, einmal pro Woche spritzen, um die Setzlinge vor falschem Mehltau zu schützen. Um Resistenzen zu verhindern, wechselt er nach ein paar Anwendungen das Präparat, bevor er wieder Chlorothalonil spritzt.

 

In der ganzen Schweiz wurden etliche Trinkwasserquellen vom Netz genommen

Wie immer, wenn Thomas Wyssa seine Pestizide vorbereitet, zieht er sich einen weißen Ganzkörperschutzanzug und eine Gesichtsmaske an. Er mischt im Tank das verdünnte Chlorothalonil an und koppelt die Pflanzenschutzspritze an seinen Traktor. Auf diese Weise kann er zwölf Beetreihen gleichzeitig behandeln. Bevor er auf die Felder fährt, zieht er den Schutzanzug wieder aus. "Sonst heißt es im Dorf: ›Thomas, gosch go giftle!‹"

 

Der 57-jährige Wyssa gehört mit seinen 22 Hektaren Anbaufläche zu den mittelgroßen Gemüseproduzenten in der Schweiz. Die Setzlinge importiert er zu Hunderttausenden aus den Niederlanden und Deutschland. In der Hochsaison arbeiten bis zu 50 Personen bei ihm, viele von ihnen kommen aus Portugal. Für seine Arbeit erhält er Direktzahlungen vom Bund, die rund 0,8 Prozent seines Umsatzes entsprechen. Etwa gleich viel Geld gibt er jährlich für Pfanzenschutzmittel aus.

 

Wyssa sitzt auch im Vorstand des nationalen Gemüseverbandes. In Galmiz führt er als Gemeindepräsident die Geschicke des Dorfes und steht der lokalen SVP vor. Als Thomas Wyssa zur Schule ging, wurde der elterliche Hof biologisch bewirtschaftet. "Der Vater blieb aber auf der Ware sitzen, die Nachfrage war nicht da." Seither wächst das Gemüse der Familie Wyssa wieder nach konventionellen Kriterien. So wie das meiste Gemüse hier im Seeland, der Schweizer Gemüsekammer.

 

Gut die Hälfte des in der Schweiz verkauften Gemüses wird im Inland produziert. Der Bioanteil hat sich in den vergangenen vier Jahren von acht auf zwölf Prozent erhöht. Für Bauer Wyssa ist das zu wenig, um umzusteigen und damit auf Pestizide zu verzichten. Die Sache mit dem Chloratholanil behagt aber auch ihm nicht. "Es ist nicht schön, was mit dem Trinkwasser passiert. Die Diskussionen sind gerechtfertigt. Mühsam finde ich, dass wir Landwirte die Sündenböcke sind." Er orientiere sich an der offiziellen Liste des Bundesamtes für Landwirtschaft und wende nichts an, was er nicht dürfe.

Roger Siegenthaler präsidiert den Verband der Solothurner Einwohnergemeinden. Er vertritt all jene Organisationen, die dafür verantwortlich sind, dass in jedem Haus einwandfreies Trinkwasser aus dem Hahn fließt. "Es ist doch verrückt: Wir müssen einen Stoff aus dem Trinkwasser kriegen, der weiterhin erlaubt ist!"

 

In seinem Kanton wurden im vergangenen Sommer bei mindestens zwölf der 100 Wasserversorgungen zu hohe Chlorothalonil-Werte festgestellt. Der höchste Wert wurde bei einer Quelle im Bucheggberg gemessen: 1,4 Mikrogramm pro Liter. Der Grenzwert liegt bei 0,1 Mikrogramm. Das Wasser dieser Quelle darf seither nicht mehr als Trinkwasser genutzt werden.

 

"Wir sind daran, ein Verbot von Chlorothalonil zu prüfen"

 

Insgesamt sind im Kanton Solothurn 150.000 Menschen betroffen, das ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung. In bestimmten Regionen, etwa dem Gäu und dem Wasseramt, liege eine "nahezu flächendeckende Belastung des Grundwassers mit dem Abbauprodukt Chlorothalonil-Sulfonsäure" vor. Das schreibt der Solothurner Regierungsrat am Dienstag in seiner Antwort auf eine Interpellation aus dem Kantonsrat. In der ganzen Schweiz wurden in den vergangenen Monaten etliche Quellen vom Netz genommen und belastetes Wasser verdünnt. Auch im Berner Seeland und im Kanton Solothurn. Aber das funktioniert nicht immer: "Mit der gegenwärtigen Infrastruktur", schreibt die Solothurner Regierung, "kann nicht überall wo nötig das belastete Wasser mit unbelastetem gemischt werden."

 

Ein Gemüsebauer ist heute auch ein Chemielaborant

Siegenthalers Ärger richtet sich nicht gegen die Bauern, sondern vielmehr gegen das BLW in Bern. "Inzwischen hat doch der Hinterste und Letzte begriffen, dass es ein sofortiges Verbot braucht!", sagt er. Ein solches Verbot fordern auch der Verband aller Kantonschemiker und die kantonalen Gesundheitsdirektoren. Zusätzlich verlangen sie "ein schweizweites sofortiges Verkaufs-, Aufbrauchs- und Verwendungsverbot", damit der Stoff nicht wie üblich während einer Übergangsfrist noch gespritzt werden darf. Der Schweizer Bauernverband rät seinen Mitgliedern, freiwillig auf das Pestizid zu verzichten. Fenaco, der größte Lieferant von landwirtschaftlichen Chemikalien, hat die chloratholanilhaltigen Mittel aus dem Sortiment genommen, bis die Zulassung geklärt ist.

 

Aber Guy Parmelin und seine Beamten lassen sich Zeit. Im August erhielten die Kantone eine Verfügung des Bundesamtes für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen, das zum Innendepartement von SP-Bundesrat Alain Berset gehört. "Darin steht, dass wir das Problem innerhalb von zwei Jahren im Griff haben müssen", sagt Siegenthaler. Ein großes Bauprojekt könnte die Lösung sein: Wasser aus der Aare oder von Juraquellen über kilometerlange, neue Leitungen dorthin führen, wo Grundwasserströme mit Chlorothalonil belastet sind. Damit das Wasser eines Tages in jeder Gemeinde von zwei hydrologisch unabhängigen Quellen stammt. "Dafür braucht es Millionen Franken und viel Zeit!", sagt Siegenthaler. "Wir erwarten, dass uns der Bund im großen Stil finanziell unterstützt. Auch brauchen wir ein beschleunigtes Planverfahren, damit Einsprachen die Sache nicht verzögern können."

 

All das steht in einem Brief, den er im Namen seiner 109 Gemeinden vor zwei Wochen ins Bundeshaus nach Bern geschickt hat. Der Brief ist inzwischen eingetroffen. Genauso wie die vielen Forderungen nach einem sofortigen Verbot. Passiert ist bisher nichts.

 

Beim Bundesamt für Landwirtschaft ist Olivier Felix, der Leiter des Fachbereichs nachhaltiger Pflanzenschutz, für das Dossier verantwortlich. "Wir sind daran, ein Verbot von Chlorothalonil zu prüfen. Das Rückzugsverfahren ist eingeleitet." Dieses könne sich aber hinziehen, weil jeder Bewilligungsinhaber seine Sicht darlegen könne und beispielsweise neue wissenschaftliche Erkenntnisse über die Giftigkeit der Abbauprodukte von Chlorothalonil einreichen könne. "Diese Informationen sind inzwischen bei uns eingetroffen. Nun werden sie geprüft."

 

Ist es also nur noch eine Formsache, bis das Pestizid vom Markt ist? Vermutlich nicht. Die 24 Unternehmen, die in der Schweiz chlorothalonilhaltige Pestizide anbieten, darunter die Agromultis Syngenta und Bayer, haben dank einer Gesetzeslücke die Möglichkeit, den Entscheid anzufechten. Wenn sie wollen, bis vor das Bundesgericht.

 

Bauer Wyssa wird im nächsten Frühling, wenn er wieder Zwiebeln auspflanzt, kein Chlorothalonil auf seine Felder sprühen. Auch wenn er noch Vorräte in seinem Container stehen hat. Er will aus der Liste der 3368 zugelassenen Pestizide ein anderes wählen, das vor Mehltau schützt. "Als Gemüsegärtner muss ich nicht nur Manager und Ökonom, Händler und Werbefachmann sein", sagt er, "sondern auch Chemielaborant."