Hurra, wir geben die Schweiz auf. Grossartig, wir kapitulieren. Diese Woche hat der Nationalrat mit deutlicher Mehrheit gegen eine einzige Partei den bemerkenswerten Entscheid getroffen, dass in der Schweiz nicht mehr die Schweizerinnen und Schweizer, sondern die Ausländer das letzte Wort haben sollen. Das jedenfalls darf als unwiderlegbares Ergebnis der mehrtägigen Monsterdebatte über die Selbstbestimmungsinitiative der SVP festgehalten werden.
Was immer in der Schweiz vom Volk und von den Kantonen entschieden wird, heute oder in der Zukunft, kann vom Parlament, kann vom Bundesgericht, kann vom Bundesrat mit einem Federstrich jederzeit gelöscht, zunichtegemacht werden. Man braucht nur irgendeine internationale Bestimmung zu finden, die sich gegen den betreffenden Volksentscheid richtet, und fertig ist es mit der direkten Demokratie und den Volksrechten, auf die alle Parlamentarier eigentlich einen feierlichen Eid geleistet haben.
Es war beinahe faszinierend, wie sich Justizministerin Simonetta Sommaruga und die Ratsmehrheit gemeinsam in der irrigen Meinung bestärkten, wie gut es sei, wenn in der Schweiz nicht Volksentscheide, sondern angeblich höhere internationale Erlasse gälten. Die Schweiz, eidgenössische Rechtsgemeinschaft immerhin seit 1291, geriet in diesen Darstellungen zum finsteren Schurkenstaat, zum Unstaat, der ohne die Segnungen auswärtiger Richter aufgeschmissen wäre.
Justizministerin Sommaruga und eine Ratsmehrheit dokumentierten, für alle nachprüfbar, wie wenig sie von den Stimmbürgern und von der direkten Demokratie im Grunde halten. Die Schweizer Stimmberechtigten sind für sie Kinder im Zustand ewiger Unmündigkeit, ein Volk von Kesb-Fällen, unfähig zu einem selbständigen, reifen Urteil. Eine Nationalrätin der Grünliberalen sprach mit Blick auf unser Staatsmodell abschätzig von «Ballenberg». Es klang wie eine psychiatrische Anstalt.
Gegen die Dummheit und demokratische Unreife der Stimmbürger setzten die Justizministerin und ihre parlamentarischen Souffleure eine höhere Weisheit, ihre eigene und die der internationalen Richter, die angeblich besser wissen, wie man die Menschenrechte auf die Schweiz anwendet, als die Schweizer.
Die Gegner der Selbstbestimmung reden von Menschenrechten und Vertragstreue, aber es geht ihnen einfach darum, den verfassungsmässigen Souverän in diesem Land, Volk und Stände, zu entmachten. Wir haben es bei der Masseneinwanderungsinitiative gesehen. Sie wurde vom Volk angenommen, aber vom Parlament nicht umgesetzt. Begründung: Die Initiative verletze internationales Recht und dürfe deshalb nicht oder nur homöopathisch umgesetzt werden. So argumentierte unter anderem Kommissionssprecher Kurt Fluri (FDP).
Wie verlogen das alles doch ist: Wenn es Fluri um Vertragstreue ginge, hätte er bereits im Abstimmungskampf darauf hingewiesen, dass die Masseneinwanderungsinitiative gegen bestehende internationale Verträge verstosse und deshalb nie umgesetzt werden dürfe. Das aber sagte er nicht. Im Gegenteil. Noch im Februar 2014, unter dem Eindruck des frischen Volksentscheids, beteuerte der Solothurner in einem Interview durchtrieben, die Initiative müsse möglichst wortgetreu verwirklicht werden. Hatte er damals die internationalen Verträge vergessen, auf die er sich heute so scheinheilig beruft?
Natürlich nicht, denn hier läuft ein anderes Spiel. Es läuft ein Staatsputsch gegen die direkte Demokratie, gegen den obersten Verfassungsgeber, gegen Volk und Stände. Die Politiker sind gegen die Selbstbestimmung des Volkes, weil sie, die Politiker, anstelle des Volks die Selbstbestimmung selber wollen. Sie wollen bestimmen, entscheiden, gestalten, dirigieren. Es geht ihnen nicht um die Wahrung des internationalen Rechts oder der Menschenrechte, die übrigens alle längst in der schweizerischen Bundesverfassung verankert und garantiert sind. Das internationale Recht dient ihnen lediglich als Hebel, als Brechstange, als weitläufig einsetzbare Allzweckwaffe, um unerwünschte Volksentscheide nach Belieben abzuschiessen. Dieses Parlament und die mit ihm verbundenen Staatsgewalten wollen keine direkte, sondern eine von oben, eine von ihnen gelenkte Demokratie.
Wie die politische Elite in diesem Lande mittlerweile denkt, zeigte ein Interview des Bundespräsidenten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 25. April 2018. Da sagte Alain Berset wörtlich: «Über Volksinitiativen können die Bürger ein Thema lancieren, das ihnen unter den Nägeln brennt. Und dann schaut das Parlament mit seinen zwei Kammern, was man daraus unter Berücksichtigung der geltenden Verfassung und des Völkerrechts machen kann.»
Nach Meinung des derzeitigen Bundespräsidenten sind also Volksinitiativen nichts Weiteres als die unverbindliche «Lancierung eines Themas», ein bisschen psychotherapeutisches Pro-forma-Dampfablassen, eine Fingernagelsache, politische Maniküre. Und das «hochwohlweise» Parlament und der allwissende Bundesrat, flankiert von den Richtern in Lausanne, angefeuert von den Medien, schauen dann schon, ob man daraus irgendetwas machen könne.
Diese bundespräsidiale Auffassung, die in der Debatte über die Selbstbestimmungsinitiative auf breiter Front zum Ausdruck kam, ist ein Affront, ist ein offener Bruch mit der geltenden Bundesverfassung. Diese hält nämlich fest: «Das Volk entscheidet, ob der Initiative Folge zu geben ist. Stimmt es zu, so arbeitet die Bundesversammlung eine entsprechende Vorlage aus.» «Entsprechen» heisst laut Duden: übereinstimmen, gleichkommen.
Klar, es ist eine kalte Entmachtung des Volkes. Klar, es herrschen korrupte Zustände im Staat, nicht nur bei der Post. Der Wahlkampf im nächsten Jahr wird sich um die Frage drehen: «Wie hältst du’s mit der direkten Demokratie?» Die Wähler können entscheiden: zwischen den Bewahrern und den Demonteuren unserer weltweit bewunderten, einzigartigen Demokratie, in der die Bürgerinnen und Bürger das letzte Wort haben. Sollten.