«Wer sich nicht konzentrieren kann, wird in 20 Jahren arm sein»

Sebastian Berger hat an der Universität Bern eine Studie über den Zusammenhang zwischen Selbstkontrolle und Smartphone-Gebrauch verfasst. Sein Fazit: Je geringer die Selbstkontrolle, desto schneller der Griff zum Handy. Im Interview verrät er, warum die Konzentration im Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie die entscheidende Kompetenz ist.

Herr Berger, haben Sie auf Ihrem Smartphone Push-Meldungen installiert?
Sebastian Berger: 
Nein, keine, ich checke auch meine Mails nur zweimal täglich: am Morgen und am Abend.

Ich habe vorhin versucht, Sie telefonisch zu erreichen, das hat nicht geklappt. Dann habe ich ein Mail geschrieben. Sie haben es offenbar gelesen.
Gut, ja, ich war vorhin mit meinem Sohn spazieren und habe da kurz in meinen Posteingang geschaut.

Zur Person
Sebastian Berger ist Assistenzprofessor am Institut für Organisation und Personal an der Universität Bern. 

 

Würden Sie von sich selber sagen, dass Sie eine grosse Selbstkontrolle haben?
Grundsätzlich schon, ja, ich kann mir aufgrund meines Jobs eigentlich gar nichts anderes leisten.

Sie arbeiten an der Universität Bern als Assistenzprofessor und haben eine Studie durchgeführt, die zeigt, dass Leute mit geringer Selbstkontrolle eher zum Handy greifen, wenn eine Nachricht aufpoppt. Eigentlich nicht so überraschend, oder?
Das stimmt, gefühlt wissen wir das ja eigentlich alle schon lange. Wir konnten nun aber zum ersten Mal wissenschaftlich nachweisen, dass ein direkter Zusammenhang besteht zwischen niedriger Selbstkontrolle und einem übermässigen Smartphone-Gebrauch.

Wie wurden die Tests genau durchgeführt?
Es war eine zweistufige Studie. In einem ersten Schritt erhoben wir im Rahmen einer Konsumentenstudie mittels verschiedenen Parametern die Persönlichkeitsdimensionen unserer Testpersonen, um zu ermitteln, ob sie über eine grosse oder niedrige Selbstkontrolle verfügen.

 

Welche Fragen wurden da gestellt?
Zum Beispiel, ob man ein Kuchenstück sofort verzehren würde, oder eher etwas wartet, um später ein zweites Stück zu erhalten. Standardfragen, um die Impulskontrolle der Testpersonen bewerten zu können.

Die angebliche Konsumentenstudie war dann aber eine reine Cover-Story?
Genau. Einige Wochen später luden wir dann die gleichen Testpersonen zu einem sogenannten experience sampling ein. Die Studienteilnehmer wurden mittels Whatsapp-Nachrichten gefragt, ob sie in letzter Zeit ein Fairtrade-Produkt gekauft haben. Was uns aber wirklich interessierte, die zentrale Variable also, war nicht das Konsumverhalten, sondern die Zeit, die jemand braucht, bis er antwortete. Dann wurden die Ergebnisse aus der ersten Studie mit den Ergebnissen aus der zweiten Studie verlinkt.

Das Fazit: Je geringer die Selbstkontrolle, desto schneller die Antwort.
Genau.

Was ist denn überhaupt so problematisch daran, das Smartphone regelmässig in die Hand zu nehmen?
Wir brauchen nicht über die Vorteile des Smartphones zu reden. Es ist unglaublich praktisch, dass wir nicht mehr eine Viertelstunde früher zum Bahnhof gehen müssen, weil wir den Fahrplan jederzeit auf unserem Handy anschauen können. Es geht nicht darum, das Smartphone zu verbieten. Aber es gibt Leute, die haben ihren Konsum nicht mehr im Griff, Smartphone-Süchtige zum Beispiel. Unser Fokus lag aber eher auf risikoreichen Situationen, in denen das Smartphone nicht gebraucht werden sollte.

Wann denn zum Beispiel?
Der Klassiker ist das Autofahren. Eine Whatsapp-Nachricht kann da oftmals die entscheidende Sekunde bedeuten, die im Strassenverkehr über Leben und Tod entscheidet. Interessanterweise wissen wir aus anderen Studien, dass insbesondere junge Leute kaum Chats initiieren, oft aber auf eine Nachricht reagieren. Die Leute wissen also, dass man das Handy im Strassenverkehr nicht bedienen sollte, machen es aber trotzdem, wenn sie sozusagen dazu aufgefordert werden.

Was kann man dagegen tun?
Das impulsive Selbstkontrollversagen bekämpfen. Eine Möglichkeit zum Beispiel wäre, das Handy während dem Autofahren konsequent in eine Tasche auf den Rücksitz zu legen.

Und welches sind andere Bereiche, für die Ihre Erkenntnisse relevant sind?
Das ist dann vor allem der Bereich der Arbeit. Da geht es grundsätzlich darum, die Konzentrationsintervalle hoch zu halten. Aber jede Mail, die auf dem Handy aufpoppt, wirft einem aus der Konzentration raus, jede Push-Meldung wirft einen ein paar Minuten zurück, das haben Studien gezeigt.

Wenn man bei uns in der Redaktion am Newsdesk sitzt, muss man permanent erreichbar sein. Da ist es eher ungünstig, sämtliche Push-Meldungen auszuschalten ...
Klar, es gibt Jobs, da ist es unerlässlich, ständig erreichbar zu sein. In meinem Job aber muss ich oft über längere Zeit konzentriert am Schreibtisch sitzen und schreiben, ich führe eine Existenz irgendwo zwischen einem Forscher, einem Schriftsteller und einem Buchhalter. Bei dieser Arbeit ist es ungemein wichtig, in das sogenannte Flow-Erlebnis zu kommen. Wenn man ständig abgelenkt wird, ist das unmöglich. Ich kappe deshalb den Internet-Zugang regelmässig. Bei uns am Institut gibt es auch ein paar Leute, die ihre Einzelbüros abschliessen und so tun, als ob sie nicht auf der Arbeit wären.

Glücklich, wer über ein Einzelbüro verfügt. Welche Gegenmassnahmen empfehlen Sie denn jemandem, der in einem Grossraumbüro arbeitet?
Das Handy in den Silent-Modus oder in den Flug-Modus zu schalten ist eine mögliche Strategie. Und sonst wirken Noise-Cancelling-Kopfhörer Wunder.

Das ist alles eher Symptombekämpfung.
Ja, das sind situationsentschärfende Massnahmen. Es gibt auch den Ansatz, dass man die Selbstkontrolle vergrössert. Dafür ist dann aber aktives Training nötig, das geht in Richtung klinische Massnahmen und psychologische Interventionen. Man muss aber dazu sagen, dass das viel schwieriger ist für den individuell Betroffenen. Ausserdem wissen wir noch zu wenig über die Mechanismen, die die Selbstkontrolle steuern. Der berühmte Marshmallow-Test ist ein Ansatz in diese Richtung.

Beim Marshmallow-Experiment werden Kinder vor die Wahl gestellt, entweder sofort eine kleine Belohnung oder nach einer gewissen Wartezeit eine grössere Belohnung zu erhalten.
Genau, das Warten, das Trainieren der Geduld ist in diesem Fall eine psychische Intervention.

Das tönt alles wahnsinnig anstrengend. Gibt es auch Ansätze, die Leuten mit wenig Selbstkontrolle die Arbeit abnehmen?
Ja, ein Beispiel wäre eine Funktion, die Whatsapp-Nachrichten sozusagen in einem Netz fangen und erst ausliefern, wenn es fünf oder zehn sind. Oder, dass das Handy automatisch eine Warnmeldung abgibt, wenn man mit 120 Km/h unterwegs ist. Der Kreativität sind da keine Grenzen gesetzt. Da wären wir dann im Bereich des Nudging, wo man die Leute zu einem wünschenswerten Verhalten anstupst. Das Problem ist bloss, dass die meisten der in diesem Bereich tätigen Unternehmen kein Interesse daran haben, dass die Leute weniger Zeit mit ihren Produkten verbringen. Das ist das Prinzip der Aufmerksamkeitsökonomie.

Aufmerksamkeitsökonomie?
Im digitalen Zeitalter ist die Aufmerksamkeit zu einem neuen, knapp verfügbaren Gut geworden. Wertvoll sind nicht mehr so sehr die Informationen, sondern die Zeit, die jemand zur Verfügung hat, diese Information zu verarbeiten – kurz gesagt: Unternehmen verdienen ihr Geld damit, dass die Leute abgelenkt werden. So funktioniert die Aufmerksamkeitsökonomie. Und wenn man jetzt da Restriktionen einzubauen versucht, untergräbt man das Geschäftsmodell dieser Unternehmen.

Der Kampf um die Aufmerksamkeit wird also eher noch zunehmen.
Ja, Aufmerksamkeit ist die zentrale Ressource. Die Rechnung geht folgendermassen: Wer sich gut konzentrieren kann, der kann Content produzieren, der gewinnt. Wer sich ablenken lässt, hat verloren. In 20, 30 Jahren wird die Konzentrationsfähigkeit der Schlüssel zum Reichtum sein. Ich könnte unendlich viel Zeit im Internet verbringen und einfach nur konsumieren, das Internet ist endlos. Oder ich konzentriere mich und produziere Content.

Es lohnt sich also zumindest finanziell, sich ein bisschen Selbstkontrolle anzutrainieren ...
Das kann man so sagen.