Tiefe Qualitätsstandards bei Brustkrebs-Früherkennung
In der Schweiz sind die Anforderungen an Radiologen viel tiefer, als in internationalen Richtlinien empfohlen. Als Folge davon erhalten Frauen häufiger falsche Diagnosen.
Das frühzeitige Finden von Brustkrebszellen ist so schwierig wie das Suchen einer Nadel im Heuhaufen. Unter 1000 Röntgenbildern voller Schattierungen und gutartiger Flecken muss ein Radiologe die drei bis sechs mit einem kleinen Tumor entdecken. Einzelne Radiologen sind doppelt bis dreifach so treffsicher wie andere.
Um die Treffsicherheit zu erhöhen, interpretieren in Screening-Programmen zwei Radiologen unabhängig voneinander die gleichen Bilder. Bei unterschiedlichem Resultat entscheidet ein dritter. Doch bei allen dreien gilt: Übung macht den Meister. Deshalb empfehlen EU-Richtlinien von 2006 als Mindeststandard, dass wenigstens einer der beiden Radiologen mehr als 5000 Screening-Bilder pro Jahr interpretieren soll. In der Schweiz hielt es im Jahr 2009 Chefarzt Thomas Cerny, damals Präsident der Krebsliga, für «nachgewiesen», dass ein «Team mindestens 5000 Mammografien pro Jahr machen muss, wenn es wirklich top sein will».
Viel Behandlung, wenig Nutzen
Selbst unter idealen Bedingungen hat die Früherkennung ihre Tücken. Man entdeckt kleine, lokale Krebszellen, die den Frauen während ihres ganzen Lebens nie Probleme machen würden. Weil Ärzte aber nicht feststellen können, welche dieser Zellen im Schlummerzustand verharren und welche bösartig werden, lassen die meisten der «erkrankten» Frauen diese Krebszellen entfernen. Sie glauben dann fälschlicherweise, die Früherkennung habe sie vor dem Krebstod bewahrt.
In Zahlen: Wenn 1000 Frauen am Screening-Programm teilnehmen, werden im Laufe von zehn Jahren vier von ihnen ohne Nutzen behandelt, und von den tausend stirbt nur eine weniger an Brustkrebs. Über dieses schlechte Verhältnis informiert die Krebsliga in ihrem neusten «Faktenblatt Mammografie-Screening». Zudem würden 200 der 1000 Frauen im Laufe der zehn Jahre mit einem Angst machenden Verdachtsbefund konfrontiert und müssten weitere Abklärungen über sich ergehen lassen – ohne Nutzen.
Wenn die Qualität des Screenings nicht erstklassig ist, kommt es zu mehr übersehenen Tumoren und zu unnötig vielen Verdachtsbefunden und Abklärungen. Die Krebsliga garantiert in ihrem Faktenblatt, dass «hohe gesetzlich vorgeschriebene Qualitätsanforderungen, auch internationale» eingehalten würden.
Es gelten Richtlinien von 1996
Von «hohen» gesetzlichen Vorgaben kann allerdings keine Rede sein. Die Qualitätsverordnung des Bundes stützt sich noch auf EU-Richtlinien von 1996, in denen keine Minimalfallzahlen für die Lesungen vorgeschrieben sind. In der Westschweiz gibt es noch heute etliche Radiologen, die nicht einmal 500 Screening-Bilder pro Jahr interpretieren und dafür insgesamt kaum drei Tage brauchen. Die Frauen können nicht einmal erfahren, welcher Arzt wie viele Bilder liest.
Bereits vor sechs Jahren hatte der Dachverband der Patientenstellen das «Beharren des BAG auf den veralteten Standards von 1996» mit «fatalen Folgen» kritisiert. Zu viele Tumore würden übersehen und zu viele Frauen mit einem falschen Krebsverdacht konfrontiert. In Absprache mit dem Bund arbeitet die Krebsliga an neuen Qualitätsrichtlinien und will den heute geltenden europäischen Standard von 2006 «landesspezifisch anpassen». Aus zwei voneinander unabhängigen Quellen ist zu vernehmen, dass die Krebsliga als «minimale Anforderung» für die beiden ersten Leser nur 2000 Lesungen pro Jahr vorschlagen will, mit dem Zusatz «wünschenswert» seien 3000. Die Radiologen möchten die Zahl der zu lesenden Bilder tief halten, damit möglichst viele teilnehmen können.
Auch das «Wünschenswerte» liegt merklich unter den 5000 für wenigstens einen der Leser, welche der europäische Standard vorsieht. Dieser sei «umstritten», meint Domenico Lepori vom Röntgenzentrum Imagerie du Flon in Lausanne. Qualitätsindikatoren würden zeigen, dass die Westschweizer Programme den europäischen Vorgaben «insgesamt» entsprächen. Man müsste viel zu viele «weniger gute» Radiologen von den Programmen ausschliessen, «wenn man die durchschnittliche Treffsicherheit der ganzen Programme um 5 Prozent erhöhen wollte», erklärt Professor Reto Meuwly, Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Radiologie. Die Krebsliga und der medizinische Screening-Leiter und Berater Chris de Wolf erklären, es gebe keine «wissenschaftliche Evidenz», dass die Trefferquote mit 5000 Lesungen «signifikant» verbessert werde.
Grosse kantonale Unterschiede
Ein «Monitoring» des Schweizer «Verbands der Krebs-Früherkennungsprogramme» stellt «grosse» Qualitätsunterschiede zwischen den Kantonen fest. Zum Beispiel mussten im Kanton Freiburg von 1000 Frauen, die zum ersten Mal teilnahmen, 90 als «Verdachtsfall» weitere Abklärungen über sich ergehen lassen, im Kanton Waadt 77. Gemäss europäischem Mindeststandard dürften es maximal 70 sein. Eine «Reduktion der falschen Befunde» würde die Qualität weiter verbessern, schreiben die Autoren, auch wenn die europäischen Referenzwerte «grösstenteils» erreicht würden.
Erika Ziltener, Präsidentin des Patientenstellen-Dachverbands, fordert schon lange «mehr als den europäischen Mindeststandard». Das «Jekami unter den Radiologen und Kantonen» müsse ein Ende haben. In Norwegen, Holland, Deutschland und England sind 5000 Lesungen pro Jahr vorgeschrieben. In diesen Ländern werden die Bilder dezentral gemacht und zentral interpretiert. Mit Erfolg: In Holland und Norwegen werden nur 13 von 1000 Frauen mit einem meist falschen verdächtigen Befund konfrontiert, in der Schweiz sind es 30 bis 50.
Vor sechs Jahren hatten die Patientenstellen und auch die Krebsliga, Europa-Donna-Präsidentin Bettina Borisch sowie Chris de Wolf, heute medizinischer Leiter des Berner Screening-Programms, für die Zulassung der Radiologen ein Examen verlangt. Doch die geplanten neuen Qualitätsanforderungen der Krebsliga und des BAG sollen nur Aus- und Weiterbildungen vorsehen, jedoch keine zu bestehende Prüfung. Anders in Deutschland: Dort müssen alle teilnehmenden Ärzte an Prüfungen 200 Röntgenbilder von 50 Frauen interpretieren. Wer mehr als neun Fehler macht, darf mit den Krankenkassen nicht abrechnen.
*Urs P. Gasche ist Redaktor bei Infosperber.ch und spezialisiert auf Fragen der öffentlichen Gesundheit. (Tages-Anzeiger)