Pflicht zur Masernimpfung für Pflegepersonal
Oberster Impfarzt schlägt neue Massnahmen zur Ausrottung der Infektionskrankheit vor
Bern Um den Ausbruch einer Masernepidemie zu verhindern, musste die Polizei letzten Herbst in der kolumbianischen Stadt Cartagena ein gesamtes Viertel abriegeln. In diesem Viertel mit Jugendherbergen, Bars und Discos hatte sich eine 31-jährige Schweizerin aufgehalten, die an Masern erkrankt war. Die Frau musste ins Spital und wurde unter Quarantäne gestellt. Monatelang herrschte Alarmbereitschaft. Die kolumbianischen Behörden forderten die Bevölkerung zum Impfen auf. In Kolumbien gab es jahrelang keinen einzigen Masernfall mehr.
Angesteckt hatte sich die Touristin zu Hause in der Schweiz bei einem Wochenendaufenthalt ihres Bruders, der in einem Heim wohnt. Dieser wiederum hatte die Viren von einem 18-jährigen Betreuer im
Heim, der noch weitere Personen ansteckte.
Impfschutz in der Schweiz ist löchrig, Epidemien sind möglich
Im Gegensatz zu Kolumbien ist die Schweiz weit davon entfernt, die Masern auszurotten. 2015 gab es erneut 35 Ausbrüche. Neun Infizierte mussten ins Spital eingeliefert werden. Das Virus
verursacht hohes Fieber, es kommt auch regelmässig zu Lungen- und Hirnentzündungen. Da der Impfschutz in der Schweiz löchrig ist, wären gar Epidemien möglich.
Als ausgerottet gilt die Krankheit bei weniger als einem Fall pro eine Million Einwohner. Dazu braucht es eine Impfquote in der Bevölkerung von 95 Prozent. Ab dieser Rate ist eine Verbreitung des
Masernvirus nicht mehr möglich. Doch wie neuste Zahlen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) zeigen, liegt die Quote in der Schweiz bei 87 Prozent. Das BAG-Programm, mit dem die Behörde die Masern
bis Ende 2015 ausrotten wollte, ist gescheitert.
Jetzt fordert Christoph Berger, Kinderarzt und Präsident der Eidgenössischen Impfkommission, strengere Regeln. Speziell das Gesundheitspersonal will er in die Pflicht nehmen: Wer in Spitälern,
Altersheimen oder Kindertagesstätten arbeitet, soll künftig periodisch und bei einer Neuanstellung seinen Impfausweis vorlegen müssen. Fehlen Impfungen, zum Beispiel jene gegen Masern, soll der
Arbeitgeber darauf hinwei- sen – und in Spitälern soll die Impfverweigerung Konsequenzen haben: «Solche Personen sollen in Hochrisikobereichen keine Anstellung mehr erhalten», sagt Berger. Als
Beispiele nennt Berger die Frühgeburten-Stationen oder Krebsabteilungen. Ungeimpfte Mitarbeiter müsse man in «patientenferne Bereiche verschieben».
Masern gelten zu Unrecht als harmlose Kinderkrankheit
Massive Kritik an der gescheiterten Masernstrategie des Bundes übt Mediziner Jan von Overbeck, Präsident der Vereinigung der Kantonsärzte der Schweiz. «Es war von Anfang an völlig klar, dass wir
das Ziel nicht erreichen.» Eine «Mischung aus Managementproblemen und Mutlosigkeit» sei für das Scheitern verantwortlich. «Man hat uns die nötigen Instrumente nie zur Verfügung gestellt»,
kritisiert von Oberbeck. Um eine Durchimpfungsrate von 95 Prozent zu erreichen, brauche es «niederschwellige Angebote». Es sei nicht einzusehen, warum nur Hausärzte gegen Masern impfen dürften.
«Wir müssen die Vorschriften lockern», fordert der oberste Schweizer Kantonsarzt: «Auch Apotheken müssen die Bewilligung für die Masernimpfung erhalten.» In der Schweiz gebe es rund 1600
Apotheken, viele seien zentral gelegen. Damit, so von Overbeck, könne man viele Leute erreichen, die vor einem zeitraubenden Arztbesuch zurückschreckten. «Man müsste auch zentrale Impfstationen
an stark frequentierten öffentlichen Orten einrichten», sagt von Overbeck: «Ideal wäre etwa der Zürcher Hauptbahnhof oder der Berner Bahnhof.»
Wie weit die Schweiz vom Ziel der Masernausrottung entfernt ist, zeigt eine Erhebung des BAG von Anfang 2015. So fehlten rund 1,4 Millionen Impfdosen, um die Lücken beim Impfschutz bei den
2- bis 49-Jährigen zu schliessen.
Zu Unrecht gelten die Masern bei vielen als harmlose Kinderkrankheit. Dabei ist das Virus viel ansteckender als die Grippe. Die Todesfälle sind zwar seit Jahren rückläufig, doch auch 2014 starben
laut der Weltgesundheitsorganisation WHO fast 120 000 Menschen an Masern. Etwa jeder Tausendste, der sich infiziert, überlebt die Masern nicht.
Obwohl die Schweiz als nicht masernfreies Land zur Verbreitung der Krankheit weltweit beiträgt, will das BAG die Schraube nicht anziehen. Ein Impfobligatorium wäre möglich, steht aber nicht zur
Debatte. Die Behörde lobt stattdessen in einer Mitteilung von dieser Woche: «Die masernfreie Schweiz ist näher gerückt.»